Das M�dchen weinte bitterlich. Eng an seine Mutter geschmiegt fuhr es im Zug von Potsdam nach Berlin einer ungewissen Zukunft entgegen. Carla von Oerzen war der Entschluss, Ihr Kind in ein angesehenes T�chterpensionat zu geben, wahrlich nicht leichtgefallen. Aber es blieb ihr keine andere Wahl. Wenn ihr schon die Mittel f�r eine Mitgift fehlten, so wollte sie doch, dass Olga eine ordentliche Erziehung bekam. In Potsdam, der kleinen Garnisonsstadt, war das nicht m�glich. Seit ihr Mann 1866 in der Schlacht bei K�niggr�tz gefallen war, lebten sie in �u�erst bescheidenen Verh�ltnissen. Ellart von Oerzen, der unter General von Moltke diente, hatte eine gl�nzende Karriere vor sich, als er, von einer feindlichen Kugel getroffen, in so jungen Jahren starb. Die geringe Pension und ein Legat eines entfernten Onkels sicherten Mutter und Tochter ein bescheidenes Auskommen. Aber ein gesellschaftliches Leben wie fr�her gab es nicht mehr.
�H�r auf zu weinen, Olga.� Carla von Oerzen strich dem schluchzenden Kind z�rtlich �ber den Kopf. �Ich habe es dir doch erkl�rt. Es muss sein. Arm sein ist schon schrecklich genug, aber ungebildet und nicht standesgem�� erzogen zu sein ist ein noch viel gr��eres �bel.� Sie seufzte tief. Auch sie war den Tr�nen nahe. �Du wei�t, wir haben kein Geld f�r eine Mitgift. Also versuch so viel wie m�glich zu lernen. Das kann dir sp�ter niemand mehr nehmen.� Sie nahm Olga in den Arm. �Vergiss nie, dass ich dich sehr lieb habe, mein Kind. Du bist mein Ein und Alles. Also mach uns den Abschied nicht allzu schwer.�
Nachdem sie ihre Tochter bei der Pensionsmutter Frau Wagenheim in der Clausewitzstra�e abgegeben hatte mit dem Versprechen, so oft wie m�glich zu schreiben, fuhr sie mit schwerem Herzen nach Potsdam zur�ck. Ihr graute vor dem leeren kleinen Haus und den nun folgenden einsamen Wochen und Monaten. Aber sie wusste, dass das, was sie getan hatte, das einzig Richtige war f�r ihr geliebtes Kind.
Olgas erster Brief war noch voller Trennungsschmerz. Sie fand einfach alles schrecklich: die ungewohnte Umgebung, das strenge Fr�ulein Kremer! Diese geh�rte zu der Sorte von Erzieherinnen, die man in jeder M�dchenschule fand. Nicht mehr jung und noch nicht richtig alt, lie�en sie ihre Verbitterung �ber ihr unerf�lltes Leben an den ihnen anvertrauten Sch�lerinnen aus, vorzugsweise an den besonders attraktiven. Fr�ulein Kremer musste einmal h�bsch gewesen sein. Wenn sie lachte, was �u�erst selten geschah, bekam ihr blasses Gesicht Farbe, und ihr meist zu einem schmalen Strich zusammengepresster Mund entfaltete volle Lippen. Einmal, sp�t in der Nacht - Olga war durstig und wollte sich einen Krug Wasser aus der K�che holen -, sah sie dort Fr�ulein Kremer am Fenster stehen. Ihre sonst straff zusammengebundenen und unter einer schwarzen Haube verborgenen Haare fielen ihr in dicken Locken auf die Schultern, und das von fahlem Mondlicht beschienene Gesicht war tr�nen�berstr�mt. Sie sah unendlich traurig aus. Von ihr unentdeckt, schlich Olga sich zur�ck in ihr Zimmer ihren Durst vergessend. Nicht einmal Sofia, mit der sie das Zimmer teilte, erz�hlte sie, was sie in dieser Nacht gesehen hatte.
Bald aber wurden ihre Briefe fr�hlicher. Der Unterricht gefiel ihr. Alles war so neu und anders als in der Schule in Potsdam. Es gab Gymnastik- und Turnunterricht, sogar Tanzstunden, nat�rlich ohne m�nnliche T�nzer. Sie erhielt Stunden in Etikette, Geschichte und Literatur, und nachmittags, wenn das Wetter es erlaubte, unternahmen sie in kleinen Gruppen, in Begleitung einer Erzieherin, Spazierg�nge in den Tiergarten. Die Mahlzeiten wurden gemeinsam mit den im Haus wohnenden Erzieherinnen und Lehrkr�ften in einem gro�en Speisezimmer eingenommen. Es durfte nicht gesprochen werden, au�er das Wort wurde an einen gerichtet. Man hatte aufrecht und gesittet zu sitzen und seinen Teller leer zu essen, ob es einem schmeckte oder nicht. Die H�nde mussten gewaschen und die Fingern�gel sauber sein, was von Fr�ulein Kremer peinlich genau kontrolliert wurde. Am Kopfende des Tisches thronte Frau Wagenheim, Witwe eines Kommerzienrates, die einmal in der Woche nach Tisch Sprechstunde abhielt, um sich die Sorgen oder Beschwerden der Sch�lerinnen anzuh�ren, aber wenn n�tig, auch Tadel auszusprechen oder Strafen zu verh�ngen, deren schlimmste Form ein Ausgehverbot war.
Das Pensionat beherbergte zwanzig M�dchen zwischen f�nfzehn und achtzehn Jahren, die in Zwei- und Vierbettzimmern untergebracht waren. Olga teilte sich ein Zimmer mit Sofia Herzberg, der Tochter eines reichen Berliner Kaufmanns. Zwei Jahre �lter als Olga, f�hlte sie sich geradezu erwachsen und schloss das kleine ungl�ckliche M�dchen sofort in ihr Herz. �Wir werden Spa� haben zusammen�, tr�stete sie es, "du wirst sehen. Und wenn wir Ausgang haben, nehme ich dich mit zu uns nach Hause.� Olga hatte ihrer neuen Freundin ehrlich gesagt, dass ihr die Mittel fehlten, an ihren freien Tagen nach Potsdam zu fahren.
Immer begeisterter wurden die Berichte aus Berlin: Letzten Sonntag waren wir bei den Herzbergs zum Mittagessen. Du glaubst ja gar nicht, wie prachtvoll die wohnen, schrieb sie. Sie haben ein Stadtpalais ganz in der N�he des Schlosses, und wenn der Kaiser seine Parade abnimmt, kann man das von ihren Fenstern aus sehen. Oh Mama, Berlin ist ja so aufregend!
Ein andermal berichtete sie von dem Salon der Frau Herzberg. Jeden Dienstag treffen sich dort Schriftsteller, die aus ihren Werken vorlesen, und Schauspieler, die Verse rezitieren. Manchmal, aber nur manchmal, d�rfen wir dabei sein. Du wei�t, das strenge Fr�ulein Kremer! Aber am Sonntag gibt ein junger Hausgast der Herzbergs dort ein Klavierkonzert. Er hei�t Johannes Brahms und spielt seine eigenen Kompositionen. Wir d�rfen dabei sein, Mama. Einfach himmlisch!
Literatur war bald Olgas Lieblingsfach. Professor Abraham, ein pensionierter Universit�tsprofessor, alt, schrullig und immer etwas zerstreut, entfachte bei ihr bereits nach den ersten Stunden eine Begeisterung daf�r, die ihr Leben lang anhalten sollte. Wenn ein gemeinsamer Theaterbesuch anstand, wurde das St�ck vorher von ihm eingehend besprochen und somit jedes Mal f�r die M�dchen ein unvergessliches Erlebnis. Olga las Goethe, Schiller, Kleist und Heine, und die Herzberg'sche Bibliothek wurde f�r sie eine unersch�pfliche Quelle f�r den interessantesten Lesestoff.
Aber nicht nur anspruchsvolle Literatur, sondern auch die Zeitschrift Gartenlaube, die Frau Herzberg abonniert....
© Verlagsgruppe L�bbe